Nicht aufgepasst

Nicht aufgepasst  1. Oktober 2015 ·

(Rückblick nach ca.25 Jahren Befreiung von der Produktion)

Rubrik: Kolumnen

Ja, wir hätten damals schon besser aufpassen sollen! Das bisschen Reisefreiheit hätte ja keinem genügt. Wir wollten reisen und die wollten die Wiedervereinigung. Stimmt schon, dass wir uns nicht mehr die Nasen an den Showfenstern platt drücken mussten.
Wir mussten nun keine Bananen und Apfelsinen nach dem Jahresendfest mehr unterpflügen, weil wir sie so lange auf Halde hielten, bis sie gammlig wurden, statt sie einfach billiger zu verkaufen.
Aber wir hätten wirklich aufpassen müssen!
Es wäre zum Beispiel ratsam gewesen, dass wir noch ganz schnell unsere Betriebe auf`n Vordermann gebracht hätten. Dann hätten wir vielleicht 5 Mark bekommen statt 1Mark, wo doch oftmals noch
Maschinen in den maroden Hallen standen, die 1-2 Millionen wert waren! (Und davon 14 Stück, bei einem Beispiel)
Hätten uns also 5x länger am Leben erhalten können. Wir hätten uffpassen sollen.
Nu isset zu spät, - jetzt haben sie uns unsere Produktionsstätten abgekauft und in den betrügerischen Bankrott getrieben. Haben uns zu kritiklosen Konsumenten gemacht und sich auf unserem Areal einen großen Markt erschlossen. Wir hätten da wiiiirklich besser aufpassen müssen.
Wir wären ja fast alle wieder gekommen, wenn wir mal nach "drüben" gekonnt hätten. Hatten doch unsere Freunde hier, manche ihr Haus. Ein Freiheitsideal verwirklichen können, hätte uns erstmal genügt! Doch nun hat man uns einverleibt, wir wollten das so!
Das neue Leben, dieses völlig neue Lebensgefühl hat uns einfach kurzsichtig gemacht. Wir waren alle kreditwürdig, bis wir unsere Häuser losgeworden sind und total verschuldet in den Abgrund schlidderten. Und im Westen waren wir bloß Jammerer!
Warum haben wir nicht aufgepasst? Jede Institution mästet sich an unserem Pech, Fehlverhalten, Unglück. Was waren wir doof! Uns wollte doch eigentlich gar keiner!
Viele klagten im Westen: wenn Deutschland wieder vereint sein würde, dann könntet ihr uns endlich besuchen, bei uns leben und in eine bessere Zukunft wechseln....
Im Konjunktiv hätten wir auch bei uns klasse gelebt.
Die Mauer fiel und ich hör das Stöhnen heute noch: "Jetzt kommen die tatsächlich!"
Na Hallo! Natürlich kommen wir, - was habt ihr denn geglaubt, dass wir uns schämen, dieses Ziel erreicht zu haben? Beladen mit Minderwertigkeitskomplexen, Unsicherheit und Unvermögen, mit dem im Westen als völlig normal geltendem Know How umzugehen,
tappten wir ungelenk über die Grenze. Wacklig noch, nach Halt suchend. Neu laufen lernend.

(Ich sah, wie bei der Grenzöffnung eine Frau eine oder mehrere Bananen in ein geöffnetes Trabi - Fenster warf!
Und die Tussi am Steuer, hat die auch glücklich lächelnd angenommen!
Da wusste ich, was Fremdschämen war. Wir haben uns doch nicht wie kleine Äffchen, mit diesen Südfrüchten in den nächsten Käfig locken lassen!)

Schämt euch, über uns die Nase zu rümpfen! Wir hatten auch unser Leben, trotz Reparationspflichten, maroden Betrieben und Stasi!
Wollten wir sooo nicht! Haben nicht aufgepasst!
Jetzt sitzen wir hier, reißen, wenn wir Glück haben, als 1€ - Jobber, unsere eigenen alten Betriebe ab, die uns noch lange ernährt hätten und werden einfach nicht mehr krank, weil man sonst gar kein Geld verdient, als Sklave im eigenen Land!
Da haben wir nicht richtig aufgepasst!
Es wurde mehr als eine Grenze überschritten.
Und dennoch – wir haben uns arrangiert, mehr oder weniger - wir sind auch nicht alle gleich! Wir sind es nicht, die die Mauer wieder wollen, die Grenzen.
Aber wir wagen nicht zu hoffen, dass die Grenzen in den Köpfen auch bald verschwinden. So blöd sind wir nun auch wieder nicht.
Wir stolperten in eure Welt und keiner von Euch hob uns auf.
Jaaaa, der Sozialstaat. Gibt es denn so was? Nicht jammern! Es geht uns gut! Ohne Zweifel.
Man muss aber nach unten sehen, wenn man das begreifen will. Ist das der Plan? Immer vergleichen, mit anderen, ärmeren Ländern?
Großer Zwiespalt! Man sollte zufrieden sein. Aber diese Entmündigung ist schon deprimierend.
Wir kriegen alle die Köpfe nicht frei. Hüben wie drüben.
Jeder hat seine Wertvorstellungen und hält daran fest.
Die Welt ist kleiner geworden, Grenzen verschwanden, außer bei ewig Gestrigen und -
ich weiß nicht mehr, wie ich jetzt auf diese "Jammerei" gekommen bin -

man muss schon aufpassen!


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